Europäische Asylpolitik und Grenzschutz
Mit der Freizügigkeit in Europa schwindet die Bedeutung der Grenzen von Nationalstaaten. Gleichzeitig spielen die Außengrenzen Europas eine immer größere Rolle – auch für Deutschland. Die Ankunft zahlreicher sogenannter "Mittelmeerflüchtlinge", die lebensbedrohliche Überfahrten wagen, steigert den Druck. Die EU reagiert mit immer strengeren Sicherheitsmaßnahmen und einer Reform ihres Migrationsrechts.
Wie viele Geflüchtete kommen über das Mittelmeer?
Im ersten Halbjahr 2020 sind nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks (UNHCR) rund 29.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gekommen – von ihnen kamen rund 25.000 Personen über den See- und etwa 3.700 über den Landweg.
Die meisten Geflüchteten kamen über Griechenland (östliche Mittelmeer-Route): Im ersten Halbjahr registrierte der UNHCR etwa 10.400 Ankünfte – davon etwa 8.100 über die Seegrenze. Etwa 8.700 Menschen erreichten Spanien (westliche Mittelmeer-Route) – davon etwa 7.400 über das Meer und rund 1.300 über die Landesgrenzen. Etwa 7.300 Menschen kamen nach Italien und knapp 1.700 nach Malta (zentrale Mittelmeer-Route).Quelle
Geflüchtete aus unterschiedlichen Ländern wählen unterschiedliche Routen (Zahlen bis April 2020):
- 40 Prozent der Geflüchteten, die Griechenland 2019 erreicht haben, kamen aus Afghanistan. Rund 25 Prozent aus Syrien.
- Etwa ein Viertel der Personen, die Spanien erreicht haben, kamen aus Algerien. 14 Prozent aus Marokko.
- In Italien kamen die zwei größten Gruppen Geflüchteter aus Tunesien (22 Prozent) und Bangladesh (18 Prozent).Quelle
2019 kamen etwa 123.700 Menschen als Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa. Von ihnen erreichten etwa 74.600 Griechenland, 32.500 Spanien und 11.500 Italien. Etwa 23 Prozent von ihnen kamen aus Afghanistan – rund 16 Prozent aus Syrien und etwa sieben Prozent aus Marokko.Quelle
Seenotrettung im Mittelmeer
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist das Mittelmeer – insbesondere das Gebiet zwischen der libyschen und italienischen Küste – die gefährlichste Grenze der Welt: Viele Menschen kommen bei der Überfahrt ums Leben.Quelle
Wer für die Seenotrettung von Geflüchteten zuständig ist, hängt von der Region im Mittelmeer ab:
- Im westlichen Mittelmeer kümmert sich vor allem die staatliche "Sociedad de Salvamento y Seguridad Marítima" aus Spanien um die Rettung von Geflüchteten. Dabei wird sie von der spanischen "Guardia Civil" unterstützt. Seit Februar 2019 arbeitet sie auch mit der marokkanischen Küstenwache zusammen. Laut Medienberichten werden Geflüchtete seitdem verstärkt in Marokko an Land gebracht. Zahlen werden dazu jedoch nicht veröffentlicht.Quelle
- Im östlichen Mittelmeer sind Einheiten der griechischen und türkischen Küstenwache sowie die europäische Frontex-Operation "Poseidon" für die Seenotrettung zuständig. Von den Menschen, die 2019 aufgegriffen wurden, erreichten rund 60.500 Personen die griechischen Küsten, etwa 60.500 wurden zurück in die Türkei gebracht.Quelle
- Im zentralen Mittelmeer birgt derzeit vor allem die libysche Küstenwache Flüchtlinge in Seenot. 2019 hat sie mehr als 8.900 Personen aufgegriffen. Die libysche Küstenwache bringt die Schutzsuchenden wieder nach Libyen, wo sie wegen "illegaler Zuwanderung" inhaftiert werden. Auch die tunesische Küstenwache greift gelegentlich Geflüchtete auf der zentralen Mittelmeerroute auf. Zudem patrouillieren die italienische Küstenwache sowie vereinzelt Nichtregierungsorganisationen in diesem Gebiet.Quelle
Bis zum Sommer 2018 waren im zentralen Mittelmeer vor allem zivile Organisationen sowie Schiffe der italienischen Küstenwache und der Europäischen Union für die Seenotrettung zuständig. Heute spielen sie bei Rettungsoperationen nur noch eine untergeordnete Rolle.Quelle
Das hat folgende Gründe:
- Seit Juni 2017 gibt es eine libysche "Search and Rescue"-Zone (SAR), für die allein die libysche Küstenwache zuständig ist. Das heißt: Sie koordiniert alle Seenotrettungsoperationen in diesem Gebiet und entscheidet, wer an Rettungsoperationen beteiligt ist. Seenotrettungs-Organisationen schließt die libysche Küstenwache von solchen Operationen aus.Quelle
- Die italienische Regierung lässt seit Juli 2018 nur vereinzelt Schiffe ziviler Seenotretter ans Land. Das hat zur Folge, dass die NGOs seitdem deutlich weniger Schiffbrüchige in Sicherheit bringen können.
- Auch die EU-Missionen "Themis" und "Sophia" sind kaum noch an Seenotrettungs-Operationen beteiligt. Die "Themis"-Schiffe patrouillieren seit 2018 in einem viel größeren Gebiet als zuvor – und halten sich deshalb nur noch selten im zentralen Mittelmeer auf. Die Mission "Sophia" ist seit März 2019 nur noch für die Überwachung des Luftraums und für die Ausbildung der libyschen Küstenwache zuständig.Quelle
Entwicklung der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer (2013-2018)
Infolge einer Reihe von tödlichen Schiffsunglücken im zentralen Mittelmeer startete die italienische Regierung im Oktober 2013 die Seenotrettungs- und Grenzschutz-Operation "Mare Nostrum", die in einem Jahr etwa 100.000 Geflüchtete rettete. Nach Abschluss von "Mare Nostrum" übernahm die europäische Operation "Triton" die Überwachung des Gebiets. Kritiker monierten: "Triton" verfüge nur über ein Drittel des Budgets von "Mare Nostrum" und sei qua Einsatzauftrag in erster Linie für die Grenzsicherung zuständig.
2014 stieg die Zahl der Menschen, die bei der Überfahrt ihr Leben verloren, auf mehr als 3.000. Daraufhin beschlossen Hilfsorganisationen wie die "Migration Offshore Aid Station", "Sea Watch" und "Ärzte ohne Grenzen", eine private Seenothilfe im zentralen Mittelmeer zu organisieren.
2015 wurde die europäische Operation EUNAVFOR MED gestartet, die später in "Sophia" umbenannt wurde. Hauptziele der Mission waren, Schleuser-Boote abzufangen und zu zerstören sowie die libysche Küstenwache zu trainieren.
2016 stieg erneut die Zahl der Schiffsunglücke im zentralen Mittelmeer: Rund 4.500 Menschen starben auf der Überfahrt. Weitere Hilfsorganisationen statteten eigene Rettungsschiffe aus: "Save the Children", die niederländische Organisation "Boat Refugee Foundation", die spanische "Proactiva Open Arms" sowie die deutschen Organisationen "SOS Mediterranee", "Sea Eye" und "Jugend Rettet".
2017 ging die Zahl der Toten im Mittelmeer zurück. Dass weniger Menschen starben, sei zum Großteil auf die Arbeit der NGOs zurückzuführen, sagte das Forschungsteam "Forensic Oceanography". Rettungsmannschaften der NGOs patrouillierten in der Regel viel näher an der libyschen Küste als die Schiffe der italienischen Küstenwache und der EU-Operationen "Sophia" und "Triton".Quelle
Dennoch standen die NGOs seit dem Sommer 2017 in der Kritik: Wiederholt wurde ihnen vorgeworfen, mit Schleuserbanden zusammenarbeiten. Mehrere Staatsanwaltschaften in Italien und auf Malta haben in diesem Sinne gegen NGOs ermittelt. Sechs Schiffe wurden seitdem beschlagnahmt und zwei wurden gezwungen, im Hafen zu bleiben, weil ihnen die Flagge entzogen wurde. Bis jetzt hat sich kein Verdacht erhärtet.Quelle
Im Zuge der folgenden Debatte führte die italienische Regierung im Juli 2017 einen Verhaltenskodex für NGOs ein, der die Aktivität der Organisationen unter strenge staatliche Kontrolle stellte. Gleichzeitig verstärkte die libysche Küstenwache mit Unterstützung der italienischen Marine die Kontrollen auf der zentralen Mittelmeer-Route. Dabei haben Hilfsorganisationen wiederholt Übergriffe der libyschen Kräfte auf ihre Schiffe sowie auf Flüchtlingsboote gemeldet.
Mehrere NGOs haben daraufhin ihre Beteiligung an Rettungsoperationen im Mittelmeer reduziert. Im Sommer 2018 hat Italien auf Anweisung von Innenminister Matteo Salvini der rechten "Lega"-Partei die eigenen Häfen für Rettungsschiffe der NGOs gesperrt.
Wie viele Flüchtlinge sind im Mittelmeer gestorben?
Es ist unmöglich, die genaue Zahl der Geflüchteten zu ermitteln, die auf der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren es 2019 etwa 1.900 Menschen. Mehr als 2/3 von ihnen sind auf der zentralen Mittelmeer-Route (Italien und Malta) gestorben. 2018 zählte IOM ungefähr 2.300 Todesfälle im Mittelmeer – etwa 1.300 allein auf der zentralen Mittelmeer-Route.Quelle
Die Zahl der dokumentierten Todesfälle im Mittelmeer ist in den vergangenen Jahren gesunken. Das liegt vor allem daran, dass weniger Menschen versuchen, über das Meer nach Europa zu gelangen. 2017 kamen mehr als 3.100 Menschen im Mittelmeer ums Leben, 2016 waren es etwa 5.100 und 2015 ungefähr 4.000.Quelle
Gestiegen ist hingegen der Anteil der Menschen, die auf der zentralen Mittelmeer-Route gestorben sind: Die Sterberate auf der zentralen Mittelmeer-Route lag 2018 bei rund 3,3 Prozent. 2019 ist sie auf 3,9 Prozent gestiegen.Quelle
Noch schwieriger ist es festzustellen, wie viele Menschen auf dem Weg zu den Mittelmeer-Küsten gestorben sind. In Nordafrika wurden zwischen 2014 und 2018 mehr als 4.000 Todesfälle gemeldet. Die IOM geht aber davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen deutlich höher liegen könnten.Quelle
Was ist das Hotspot-System?
2015 hat die Europäische Union sogenannte Hotspots an den südlichen Außengrenzen der EU eingerichtet. Es gibt fünf Hotspots auf den griechischen Inseln (Chios, Lesbos, Samos, Leros, Kos) und vier in Italien (Lampedusa, Pozzallo, Taranto, Trapani). Dort werden alle ankommenden Asylsuchenden registriert. Dafür sind sowohl Vertreter der nationalen Grenzbehörden als auch Mitarbeiter der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) und des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) zuständig.
In Griechenland müssen Geflüchtete, die in den Hotspots registriert wurden, zunächst auf den Inseln bleiben. Sie haben hier zwei Optionen:
- Sie werden im Rahmen des sogenannten EU-Türkei-Deals zurück in die Türkei überstellt, wo sie einen Asylantrag stellen können.
- Sie stellen einen Asylantrag in Griechenland. In diesem Fall dürfen sie die Insel nicht verlassen, bis der Antrag bearbeitet wurde.
In Italien werden Geflüchtete nach der Registrierung in zwei Gruppen aufgeteilt: Asylsuchende und vermeintlichen "Wirtschaftsflüchtlinge". Erstere werden in einem Aufnahmezentrum (CARA) oder in einer Notunterkunft (CAS) untergebracht und können einen Asylantrag stellen. Letztere werden in einem "Ausreisezentrum" (CIE) festgehalten und daraufhin abgeschoben.
"Relocation" und "Resettlement"
1. Relocation
Seit 2015 gibt es Programme für die Umverteilung von Geflüchteten (sogenannte relocation-Programme) aus Griechenland, Italien und Malta. Bislang blieb die Zahl der Geflüchtete, die in diesem Rahmen in der Europäischen Union verteilt wurden, weit unter den angestrebten Zielen.
Zwischen Sommer 2018 und Oktober 2019 haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, etwa 1.200 Geflüchtete aus Italien und Malta aufzunehmen. Tatsächlich überstellt wurden allerdings lediglich 368 Personen. Quelle
2015 hatte die Europäische Kommission beschlossen, bis 2017 rund 160.000 Geflüchtete aus Italien und Griechenland auf andere EU-Mitgliedstaaten zu verteilen. Überstellt sollten vor allem Asylsuchende mit guter Bleibeperspektive werden, wie etwa Syrer und Eritreer und besonders Schutzbedürftige (Familien mit Kindern, Frauen, Kranke). Das Programm ist 2017 ausgelaufen. Lediglich 34.700 Menschen wurden in seinem Rahmen überstellt – etwa 12.700 aus Italien und rund 22.000 aus Griechenland. Die meisten von ihnen gingen nach Deutschland (ca. 11.000 Menschen), Frankreich (5.000) und nach Schweden (3.000). Ungarn und Polen haben hingegen keinen einzigen Asylsuchenden aus Italien und Griechenland aufgenommen.
2. Resettlement: Im Rahmen des sogenannten 1:1-Mechanismus des EU-Türkei-Deals müssen Migranten, die die griechischen Inseln erreichen, aus den Hotspots zurück in die Türkei überstellt werden. Für jeden Geflüchteten, der von den griechischen Inseln in die Türkei überführt wird, soll ein schutzbedürftiger Asylsuchender aus der Türkei legal in die EU einreisen dürfen. Bis Oktober 2019 sind durch diese Programme rund 25.000 Asylsuchende nach Europa eingereist.Quelle
Die Kritik
Seit seiner Einführung stand das Hotspot-System in der Kritik – sowohl von Menschenrechtsorganisationen als auch von der Europäischen Kommission. Vor allem die Lage in den Hotspots auf den griechischen Inseln gilt als extrem kritisch: Aufgrund der Überfüllung der Einrichtungen habe es in den vergangenen Jahren wiedrholt Menschenrechtsverletzungen und Gewalt-Eskalationen gegeben.
Was ist das EU-Türkei-Abkommen?
Am 18. März 2016 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) auf ein Abkommen mit der Türkei. Es soll verhindern, dass Geflüchtete "illegal" in die EU einreisen. Das Abkommen trat am 20. März 2016 in Kraft. Aus Sicht der EU ist eines der wichtigsten Ziele in Erfüllung gegangen: Die Flüchtlingszahlen sind deutlich zurückgegangen. Das Abkommen stößt jedoch vielfach auf Kritik.
Was wurde beschlossen?
- Um "irreguläre" Einreisen in die EU zu verhindern, soll die Türkei ihre Grenzkontrollen verschärfen und stärker gegen Schlepper vorgehen.
- Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind und keinen Anspruch auf Asyl haben, sollen in die Türkei zurückgeführt werden.
- Für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, soll ein anderer Syrer legal in die EU einreisen dürfen ("Eins-zu-eins-Mechanismus").
- Bis Ende 2017 hat die EU der Türkei drei Milliarden Euro zugesagt, um Geflüchtete im Land besser versorgen zu können. Im Juni 2018 wurden weitere drei Milliarden Euro bis Ende 2019 bereitgestellt.
- Die EU hat der Türkei in Aussicht gestellt, die Verhandlungen zum EU-Beitritt zu beschleunigen und die Visumpflicht für türkische Bürger abzuschaffen.Quelle
Wie ist die Bilanz?
Die EU-Kommission veröffentlicht in regelmäßigen Abständen Zahlen zur Umsetzung des Abkommens. Aus den aktuellen Berichten und weiteren Quellen geht hervor (Stand: März 2019):
- Einreisen in die EU: Die Zahl der Flüchtlinge, die irregulär aus der Türkei nach Griechenland einreisen, ist deutlich gesunken. Im Jahr 2018 kamen durchschnittlich rund 92 Geflüchtete pro Tag auf den griechischen Inseln an. Im Oktober 2015 waren es über 6.000 Geflüchtete pro Tag. Laut Experten liegt der Rückgang nicht allein am Abkommen mit der Türkei, sondern auch an der Schließung der sogenannten Balkanroute. Zudem wüssten viele Flüchtlinge, wie prekär die Situation auf den griechischen Inseln ist, und blieben deshalb in der Türkei.
- Rückführungen in die Türkei: Seit Inkrafttreten des Abkommens wurden 2.437 Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Auf den griechischen Inseln halten sich aktuell rund 12.000 Geflüchtete auf.
- Aufnahme von Syrern in die EU: Im Rahmen des "Eins-zu-eins-Austauschs" haben die EU-Mitgliedstaaten etwa 20.300 syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen.
- Finanzhilfen für die Türkei: Die erste Tranche betrug drei Milliarden Euro, im Juni 2018 wurde eine weitere Tranche genehmigt, bevor die erste aufgebraucht war. Zwei Milliarden Euro kommen davon aus dem EU-Haushalt, eine Milliarde Euro übernehmen die Mitgliedsstaaten.
- Die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei sowie zu den Visaerleichterungen für türkische Bürger sind nur schleppend vorangekommen. Grund dafür sind auch die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei.
- Todesopfer und Vermisste: Die Zahl der Todesopfer und Vermissten in der Ägäis ist seit dem Inkrafttreten des Abkommens gesunken. 2015 sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) noch 803 Menschen gestorben oder gelten als vermisst, 2017 waren es 62 Menschen, 2018 174.Quelle
Was wird kritisiert?
Wissenschaftler und Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Abkommen:
- Die EU habe mit dem "Deal" die Verantwortung für Flüchtlinge ausgelagert und sich in Abhängigkeit des umstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) begeben.Quelle
- Die türkische Republik habe weltweit zwar die meisten Flüchtlinge aufgenommen, viele von ihnen hätten jedoch einen unsicheren Rechtsstatus und lebten in prekären Verhältnissen.Quelle
Zudem habe das Abkommen dazu geführt, dass sich die Lage der Flüchtlinge deutlich verschlechtert habe:
- Auf den griechischen Inseln seien mehrere Tausend Flüchtlinge gestrandet, ohne Zugang zu fairen Asylverfahren.
- Die Unterkünfte auf den Inseln seien massiv überbelegt, sodass Geflüchtete unter teils katastrophalen Bedingungen dort leben müssten.
- Schutzsuchende, die in die Türkei zurückgeführt wurden, seien dort nicht sicher, sondern würden inhaftiert und zum Teil in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Zivilgesellschaftliche Initiativen und das UN-Flüchtlingshilfswerk in der Türkei hätten kaum Zugang zu den Geflüchteten.Quelle
Angesichts der prekären Umstände fordern viele Experten, den umstrittenen "EU-Türkei-Deal" aufzugeben. Welche Alternativen es zum Abkommen gäbe, haben Migrationsforscher in einem Artikel des MEDIENDIENSTES erklärt.
Warum kommen Menschen "illegal" über die EU-Grenzen?
Um einen Asylantrag in Europa zu stellen, müssen Flüchtlinge laut EU-Aufnahmerichtlinie zunächst nach Europa einreisen. Um das auf legalem Weg zu tun, brauchen sie ein Visum.
Doch Menschen in Krisengebieten haben meist keine Chance auf ein Visum. Das hat mehrere Gründe: Zum einen werden die diplomatischen Vertretungen in Kriegsregionen häufig geschlossen. Zum anderen ist die Vergabe eines Visums nach EU-Visakodex an strenge Bedingungen geknüpft, wie etwa dem Nachweis von ausreichenden finanziellen Mitteln.
Die Agentur der Europäischen Union für Menschenrechte (FRA) hat die Zahl der Schengen-Visa verglichen, die in Syrien vor und nach Beginn des Bürgerkriegs ausgestellten wurden: Während 2010 in Syrien noch rund 35.000 Schengen-Visa ausgestellt wurden, lag die Zahl 2013 fast bei Null.
Ohne ein Visum ist es auch nicht möglich, ein Flugzeug zu besteigen, um nach Europa zu gelangen. Denn nach einer EU-Richtlinie von 2001 gilt in dem Fall die Fluggesellschaft als "Beförderungsunternehmen", das sich als solches strafbar macht und eine entsprechende Geldstrafe zahlen muss.
Gemeinsames europäisches Asylsystem
Das Grundkonzept eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurde 1999 im Tampere-Programm definiert und durch das Haager Programm (2004) bestätigt. Ziel sei es, "ein einheitliches Asylverfahren und einen einheitlichen, unionsweit gültigen Rechtsstatus" zu etablieren. Damit sollte vor allem die sogenannte Schutzlotterie beseitigt werden: Denn Flüchtlinge trafen bislang in den verschiedenen Mitgliedsstaaten auf sehr unterschiedliche Standards bei der Aufnahme und den Asylverfahren.
Im Juni 2013 hat das Europäische Parlament neue Vorschriften für gemeinsame Verfahren und Fristen für die Bearbeitung von Asylanträgen verabschiedet. Diese wurden 2015 von allen Mitgliedstaaten übernommen. Ein Gutachten der Friedrich-Ebert-Stiftung hält einige wichtige Verbesserungen fest: So seien die Schutzstandards für Personen mit subsidiärem Schutz und minderjährige Flüchtlinge angehoben worden. Kritisiert werden die Möglichkeit, Asylsuchende zu inhaftieren, und die Möglichkeit zu beschleunigten Verfahren. Insgesamt gebe es "beachtliche Spielräume bei der Umsetzung von Normen, insbesondere in der Ausgestaltung der Asylverfahren".
Den Kern bilden zwei Verordnungen und mehrere Richtlinien, unter anderem:
- Die Dublin III - Verordnung regelt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und die Möglichkeit der Inhaftierung von Flüchtlingen.
- Die EURODAC-Verordnung regelt den Aufbau eines Fingerabdruck-Systems zur Kontrolle der Umsetzung der Dublin-Verordnungen.
- Die Qualifikations-Richtlinie regelt, wer als Flüchtling gilt.
- Die Aufnahme-Richtlinie regelt, wie die Aufnahme und Behandlung von Asylsuchenden zu erfolgen hat.
- Die Asylverfahrens-Richtlinie regelt die Grundlagen der Asylverfahren.
Einen verständlichen Überblick zur europäischen Asylgesetzgebung bietet ein Artikel des Rechtswissenschaftlers Jürgen Bast von Januar 2016.
Was ist FRONTEX?
Die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ FRONTEX ist eine Einrichtung der Europäischen Union mit Hauptsitz in Warschau. Sie wurde 2004 gegründet, um die Grenzschutzsysteme der Mitgliedstaaten im Hinblick auf irreguläre Einwanderung zu koordinieren. Dafür arbeitet FRONTEX in sechs Kernbereichen:
- Ausbildung von Grenzschutzbeamten,
- Risiko-Analyse der Grenzübergänge,
- Technologische Unterstützung,
- Koordinierung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke,
- Unterstützung bei Abschiebungen,
- Informationsaustausch zwischen den nationalen Grenzpolizei-Einheiten.
Im September 2016 hat der Europäische Rat beschlossen, die Kompetenzen von Frontex zu erweitern. Durch diesen Beschluss wird Frontex offiziell zu einer Europäischen Grenz- und Küstenwache. Nach den neuen Befugnissen kann Frontex:
- Grenzschutz-Operationen aktiv organisieren und koordinieren,
- Seenotrettungs-Operationen technisch und logistisch unterstützen,
- Im Notfall Grenzsicherungs-Operationen an den EU-Außengrenzen einleiten und mit 1.500 eigenen Beamten durchführen,
- Rückführungen und Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern veranlassen und durchführen.
Vor diesem Hintergrund ist das Budget von Frontex in den letzten zwei Jahren stark gestiegen: Lag es 2014 noch bei knapp 100 Millionen Euro im Jahr, beläuft sich es für das Jahr 2016 auf mehr als 254 Millionen Euro.
Migrationspolitik EU-Afrika
Die EU und einzelne europäische Staaten haben in der Vergangenheit mehrere umstrittene Abkommen mit afrikanischen Staaten geschlossen, um Migrationsbewegungen zu reduzieren. Spanien begann schon in den 1990er Jahren seine Migrationskontrolle nach Westafrika zu verschieben. 1998 legte die österreichische Präsidentschaft dem Europäischen Parlament ein "Strategiepapier zur EU-Migrations- und Asylpolitik" vor, in dem es unter anderem darum ging, Drittstaaten in das europäische Grenzsystem miteinzubeziehen.
Die spanische Regierung schloss 2005 im Rahmen des "Plan África" mehrere Abkommen mit westafrikanischen Staaten, unter anderem Marokko, Mauretanien, Mali und Senegal. Dabei ging es darum, irreguläre Einwanderer zurückzuführen und Migrationsrouten enger zu überwachen – auch mithilfe des spanischen Militärs. Im Gegenzug bekamen die afrikanischen Staaten mehr Entwicklungshilfe. Nach einem ähnlichen Muster ging die italienische Regierung 2008 ein „Freundschaftsabkommen“ mit dem libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi ein.
Die Flüchtlingszahlen gingen zurück – doch gleichzeitig dokumentierten spanische und italienische Menschenrechtsorganisationen sowohl in Mauretanien als auch in Libyen willkürliche Inhaftierungen, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen. Trotzdem bildeten diese Abkommen die Blaupause für zukünftige Vereinbarungen zwischen europäischen und afrikanischen Staaten.
Innerhalb von fast 20 Jahren gab es zahlreiche Gipfel und Prozesse, in denen – neben wirtschaftlicher Kooperation und Entwicklungshilfe – Migrationskontrolle eine zentrale Rolle spielte:
Wichtigste Ereignisse in der EU-Afrika-Migrationspolitik
• 2000 – Abkommen von Cotonou
2000 beschloss die EU gemeinsam mit 79 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten im „Abkommen von Cotonou“ die erste supranationale Vereinbarung zur Migrationskontrolle. Die Vertragspartner sicherten sich die gegenseitige Rücknahme von irregulären Migranten zu.Quelle
• 2006 – Rabat-Prozess
Seit 2006 beteiligten sich 23 westafrikanische Staaten sowie weitere zentral- und nordafrikanische Staaten an dem „Rabat-Prozess“, der durch die EU initiiert wurde. Sie verfolgten das Ziel, irreguläre Migration vor allem aus Westafrika zu bekämpfen. Der „Rabat-Prozess“ leitete die stärkere Grenzkontrolle zwischen afrikanischen Staaten ein. Die Binnenmigration innerhalb Afrikas sollte so reduziert werden. Im Rahmen des Prozesses hat sich die EU zudem dazu verpflichtet, legale Migration zu fördern und die Synergie zwischen Migration und Entwicklung zu stärken.Quelle
• 2007 – Gemeinsame Strategie Afrika-EU
Die „Gemeinsame Strategie Afrika-EU“ wurde 2007 zwischen den 55 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union und den Mitgliedstaaten der EU vereinbart. Beide Staatengemeinschaften beschlossen die „Bekämpfung illegaler Migration“ und entschieden, bei der Grenzkontrolle und Rücknahme von Migranten zu kooperieren.Quelle
• 2012 – Kooperation EU-Niger
Im Rahmen der zivilen Mission EUCAP Sahel-Niger haben der Europäische Rat und die nigrinische Regierung 2012 vereinbart, gemeinsame Maßnahmen zur „Verhinderung der irregulären Einwanderung und Bekämpfung damit verbundener Kriminalität“ einzuführen. Der westafrikanische Staat gilt als einer der wichtigsten Umschlagplätze für irreguläre Migration südlich der Sahara.
• 2014 – Karthoum-Prozess
Im Khartoum-Prozess fokussierte die EU die Zusammenarbeit mit elf ostafrikanischen Herkunfts- und Transitländern im Horn von Afrika. Die Verhandlungspartner verständigten sich zur Zusammenarbeit beim „Grenzmanagement“ und begründeten dies mit dem Ziel, „Menschenhandel und Schleuser einzudämmen“.Quelle
• 2015 – Valletta-Aktionsplan
Anders als von der EU erwartet, wurden nicht mehr ausreisepflichtige afrikanische Migranten zurückgeführt. Deshalb versuchte die Europäische Union, ihre vergangenen Vereinbarungen im Valetta-Prozess von 2015 zusammenzubringen. An ihm beteiligten sich die Regierungschefs von 66 Ländern aus Afrika und Europa sowie die Vorsitzenden zahlreicher internationaler Organisationen. Die EU-Politiker strebten danach, „Laissez-Passers“-Papiere – selbstausgestellte Abschiebepapiere – einzuführen. Sie scheiterten jedoch mit ihrem Vorhaben.Quelle
• 2015 – EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika
Im Rahmen des Valletta-Aktionsplans hat die EU einen Nothilfe-Treuhandfonds eingerichtet, der das Ziel hat, Fluchtursachen in den Herkunftsstaaten zu bekämpfen und irreguläre Migration zu unterbinden. Der Fonds hat bislang 177 Projekte in Ost-, Nord- und Westafrika (Sahel) finanziert und verfügt über ein Budget von 3,4 Milliarden Euro (Stand: März 2018).Quelle
• 2017 – Gipfeltreffen der Europäischen und Afrikanischen Union in Abidjan
Im Rahmen der "Gemeinsamen Strategie Afrika-EU" (siehe oben) haben die Mitglieder der Europäischen und Afrikanischen Union in der ivorischen Hauptstadt vereinbart, eine gemeinsame Arbeitsgruppe "Migration" einzurichten. Dabei geht es in erster Linie um die Bekämpfung der irregulären Migration – insbesondere von und nach Libyen.
News Zum Thema: EU-Asylpolitik
Flucht und Asyl EU-Migrationspakt steht in der Kritik
Die Europäische Kommission hat einen sogenannten Migrationspakt vorgestellt. Das europäische Asylsystem soll schneller, effizienter und solidarischer werden. Migrationsforscher*innen sprechen hingegen von einer Abkehr von Menschenrechten.
Mittelmeer Wie Europa Geflüchtete fernhalten will
Weniger Geflüchtete als im vergangenen Jahr erreichen Europa über das Mittelmeer. Das liegt aber nicht an Corona – sondern an menschenrechtlich fragwürdigen Methoden, mit denen Flüchtlinge abgefangen werden, bevor sie in Europa an Land gehen können.
Flucht Wie ergeht es Künstler*innen im Exil?
In den vergangenen Jahren flohen viele Künstler*innen nach Deutschland. Etliche zog es nach Berlin, was mitunter als das neue kulturelle Damaskus bezeichnet wird. Wie ergeht es ihnen hier? Ein Gastbeitrag der Migrationsforscherin Laura Lemmer.