Kriminalität in der Einwanderungsgesellschaft
Kriminalität und Herkunft werden in politischen Debatten häufig in Zusammenhang gebracht: Das Stereotyp vom kriminellen Migranten als „jung, männlich, delinquent“ ist weit verbreitet. In jüngster Zeit laufen Debatten jedoch auch um die sogenannte Ausländerkriminalität, die durch Flüchtlinge gestiegen sei. In den meisten Fällen entsprechen die Vorurteile nicht dem Stand der Daten und Forschung.
Wie viele Straftaten begehen Menschen mit Migrationshintergrund?
Das lässt sich nicht ohne Weiteres sagen, denn die Kriminalitätsstatistiken unterscheiden nur zwischen deutschen Staatsangehörigen und Ausländer*innen – Menschen mit Migrationshintergrund werden nicht separat erfasst.
2019 lag der Anteil der "Nichtdeutschen" an allen Tatverdächtigen bei 30,4 Prozent (ohne ausländerrechtliche Verstöße). Der Anteil blieb im Vergleich zum Vorjahr nahezu unverändert (2018: 30,5 Prozent). In absoluten Zahlen: Rund 577.000 Tatverdächtige ohne deutsche Staatsangehörigkeit wurden gezählt, das waren etwa zwei Prozent weniger als im Vorjahr.Quelle
Die Erfassung von "Ausländerkriminalität" ist im Allgemeinen mit Vorsicht zu genießen, denn sie führt zu Verzerrungen:
- Die Zahl der Tatverdächtigen besagt nicht, wie viele von ihnen tatsächlich verurteilt wurden.
- Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zählt zu ausländischen Tatverdächtigen auch Personen, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten – zum Beispiel Menschen, die nur eingereist sind, um Straftaten zu begehen (grenzüberschreitende Kriminalität).
- Die besondere soziale Lage und der Altersdurchschnitt der Bevölkerungsgruppe „Ausländer“ werden statistisch nicht berücksichtigt. Junge Männer werden häufiger straffällig als andere Bevölkerungsgruppen, auch schwierige Lebensbedingungen, wie ein erschwerter Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, erhöhen das statistische Risiko, Straftaten zu begehen.
"Einen übergreifenden, einfachen Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität gibt es nicht", sagt etwa der Kriminologe Christian Walburg 2016 in einer Expertise zum Thema für den MEDIENDIENST.
"Politisch motivierte Kriminalität – Ausländische Ideologie"
Das Bundesinnenministerium erfasst außerdem Fallzahlen zum Bereich "Politisch Motivierte Kriminalität - ausländische Ideologie". Damit sind Straftaten gemeint, denen "eine im Ausland begründete Ideologie zugrunde liegt". Das bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass die Tatverdächtigen ausländische Staatsangehörige sind – auch Deutsche können "Ausländerkriminalität" begehen. Von 2018 auf 2019 ist die Zahl dieser Straftaten um rund 24 Prozent auf 1.897 Delikte gesunken. Die Zahl der Gewalttaten in diesem Bereich ist von 425 auf 351 gesunken. Gesunken ist in den letzten Jahren auch die Zahl der Straftaten im Bereich "religiöse Ideologie". Darunter fallen laut Angaben des Bundesinnenministeriums vor allem islamistisch begründete Delikte.Quelle
Wie viele Straftaten begehen Flüchtlinge?
In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst das Bundeskriminalamt (BKA) die Zahl der tatverdächtigen "Zuwandererinnen/Zuwanderer". Als "Zuwanderer" bezeichnet das BKA Asylbewerberinnen und -bewerber, Schutzberechtigte und Asylberechtigte, Geduldete, Kontingent- und Bürgerkriegsflüchtlinge sowie Menschen, die sich unerlaubt in Deutschland aufhalten. Zur Kategorie "Zuwandererinnen/Zuwanderer" zählt das BKA damit auch Menschen, die möglicherweise gezielt einreisen, um eine Straftat zu begehen.Quelle
Die Zahlen
2019 lag die Zahl der tatverdächtigen "Zuwanderer" nach dieser Definition bei 151.009 Menschen (ohne aufenthaltsrechtliche Straftaten wie etwa "illegale" Einwanderung). "Zuwanderer" machten damit 8 Prozent aller Tatverdächtigen aus, 0,6 Prozentpunkte weniger als 2018.Quelle
Straftaten, bei denen "Zuwanderer" häufig verdächtigt wurden, sind Diebstahl, Körperverletzung sowie Betrugsdelikte.Quelle
Wer sind die Tatverdächtigen?
Bei jungen Männern ist das Risiko, straffällig zu werden, besonders hoch. Das gilt allgemein und auch im Fall von "Zuwanderern": 2018 waren 65 Prozent der tatverdächtigen "Zuwanderer" unter 30 Jahre alt.Quelle
Wie häufig werden Asylsuchende Opfer von Straftaten?
2019 waren 50.466 Asylsuchende und Geflüchtete von einer Straftat betroffen. Das sind etwa sieben Prozent mehr als im Vorjahr. Sie stellten damit rund fünf Prozent aller registrierten Opfer.Quelle
- Alter: Sieben Prozent der Opfer waren laut Statistik Kinder, neun Prozent Jugendliche, 15 Prozent Heranwachsende (18 bis unter 21 Jahre) und 70 Prozent Erwachsene.
- Geschlecht: 74 Prozent der Betroffenen waren männlich, 26 Prozent weiblich. Das heißt jedoch nicht, dass geflüchtete Frauen seltener Opfer einer Straftat werden als geflüchtete Männer. Unter Asylsuchenden sind Männer deutlich stärker vertreten als Frauen.
- Art der Straftat: In 79 Prozent der Fälle ging es um Körperverletzungen. Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung machten etwa 1,4 Prozent aus. Bei diesen Delikten waren 83 Prozent der Opfer weiblich. 253 Asylsuchende und Geflüchtete wurden Opfer eines Tötungsdelikts. 22 von ihnen kamen dabei ums Leben.Quelle
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Herkunft?
Für einen kausalen Zusammenhang von Migrationshintergrund und delinquentem Verhalten gibt es keine wissenschaftlichen Belege, erklärt Rechtswissenschaftler Christian Walburg in einem Gutachten für den MEDIENDIENST. Auch zeigen Studien keine grundsätzlichen Unterschiede im kriminellen Verhalten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund auf.
Jugendliche aus Einwandererfamilien berichten in einigen Befragungsstudien allerdings häufiger von Gewaltdelikten und finden sich vermehrt unter Mehrfachgewalttätern wieder, wie etwa eine Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zeigt. Da dies jedoch auf alle größeren Herkunftsgruppen zutrifft, dient das nicht als Beleg für den Zusammenhang mit einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit.
Die erhöhten Gewalttaten scheinen eher mit Lebenslagen zusammenzuhängen, die oft mit Migration verbunden sind. So verschwinden beispielsweise die Unterschiede bei der Gewalttätigkeit zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund nahezu, wenn sie die gleichen Bildungschancen haben.Quelle
Welche Ergebnisse liefern Befragungen bei Jugendlichen?
Befragungsstudien („Dunkelfeld“-Untersuchungen) haben gegenüber offiziellen Kriminalstatistiken den Vorteil, dass sogenannte Kriminalisierungsrisiken keinen Einfluss haben. Zudem können hier Migrationsbezüge und andere individuelle und soziale Merkmale erfasst werden, die Aufschluss geben. Aus diesen Untersuchungen geht hervor:
- Es gibt keine grundsätzlichen Unterschiede im Delinquenzverhalten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund.
- Unterscheidet man nach Deliktbereichen, fällt auf: Migrantenjugendliche berichten in Befragungen insgesamt ähnlich häufig wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund von "Bagatelldelinquenz" wie Sachbeschädigungen oder Diebstahl.
- Jugendliche mit Migrationshintergrund berichten nach der Mehrzahl der Studien häufiger von Gewaltdelikten und tauchen öfter unter Mehrfachgewalttätern auf.
- Ein Zusammenhang zwischen erhöhter Gewaltbereitschaft und einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit wird durch Studien jedoch nicht belegt. Wenn die Befragungen höhere Anteile von Gewalttätern ergeben haben, traf dies meist auf alle größeren Herkunftsgruppen zu.
- Eine stärkere Zustimmung zu Gewalt hat offenbar mit einer größeren sozialen Randständigkeit (Marginalisierung) zu tun. Bei gleichen Bildungschancen verschwinden die Unterschiede zwischen den Gruppen nahezu.
- Speziell für die Nachkommen der sogenannten Gastarbeiter finden sich Hinweise darauf, dass Unterschiede zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund geringer werden oder verschwinden.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Kriminelles Handeln kann nicht herkunftsspezifisch erklärt werden. Quelle
Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Gewalt
Ob junge Menschen zu Gewalt neigen oder nicht, hängt zunächst von ihrer grundsätzlichen Einstellung dazu ab, heißt es im Gutachten zu "Migration und Jugenddelinquenz" von Christian Walburg. Für die mitunter erkennbare höhere Gewaltbereitschaft Jugendlicher mit Migrationshintergrund finden sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen Debatte verschiedene Erklärungsansätze, die umstritten sind und sich zum Teil widersprechen:
Innerer Kulturkonflikt:
Die Anhänger dieser These betrachten Gewalt und Delinquenz als Begleiterscheinung der Phase, in der Jugendliche ihren Platz in der deutschen Gesellschaft suchen. Dabei entstehen Spannungen und Identitätsprobleme, die zu negativen Selbstbildern führen können. Das Bild des „entwurzelten Migrantenkindes“ ist in der Wissenschaft allerdings nicht hinreichend belegt. Einige Forscher weisen darauf hin, dass Multikulturalität für das Wohlbefinden von Jugendlichen auch von Vorteil sein kann.
Äußerer Kulturkonflikt:
In diesem Ansatz wird Gewaltbereitschaft als Folge einer fehlgeschlagenen Integration gesehen und mitunter ein fragwürdiger Gegensatz konstruiert: Zum einen die moderne, gewaltfreie deutsche Gesellschaft und zum anderen die "vormoderne" Herkunftskultur, in der Gewalt zum Alltag gehört. Nach diesem Muster ist Gewalt die Folge einer mangelnden kulturellen Anpassung an die vermeintlich gewaltfreie Aufnahmegesellschaft. Dieser Ansatz fand sich zum Beispiel häufig in der „Ehrenmorde“-Debatte wieder.
Marginalisierung:
Nach dieser These ist Gewalt in erster Linie das Ergebnis einer sozialen Benachteiligung von Migranten. Vor allem jungen Männern fehle es demnach an sozialer Anerkennung. Delinquentes Verhalten diene dann dazu, Stärke und Macht zu demonstrieren. Quelle
Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewalt
In der Berichterstattung zu Jugendkriminalität und Gewalt kommt es immer wieder vor, dass ein Zusammenhang zwischen Islam und Gewalttätigkeit hergestellt wird. Doch Religiosität hat bei jungen Muslimen keinen Einfluss auf Delinquenz. Das belegt übrigens auch die oft zitierte Studie des Forschungsinstituts Niedersachsen "Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum".
Darüber hinaus zeigen manche Untersuchungen, dass ihr Glaube bei jungen Muslimen eher soziale Bindungen und Kontrolle fördert. Die Forscher richten ihren Blick dabei unter anderem auf das Freizeitverhalten: Weniger Alkoholkonsum und weniger Nachtleben verringern demnach "die Delinquenzrisiken" in manchen Migrantengruppen deutlich.Quelle
Wie viele "Ehrenmorde" gibt es?
Für die umstrittene Bezeichnung "Ehrenmord" gibt es keine allgemein gültige Definition. Zwei Juristen vom "Max Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht" haben jedoch 2011 eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalamts verfasst und den Tatbestand folgendermaßen definiert:
"Ehrenmorde sind vorsätzlich begangene, versuchte oder vollendete Tötungsdelikte, die im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustellen. Die Verletzung der Ehre erfolgt durch einen wahrgenommenen Verstoß einer Frau gegen auf die weibliche Sexualität bezogene Verhaltensnormen."Quelle
Bundesweit debattiert wurden "Ehrenmorde" immer wieder, unter anderem 2005 nach dem Mord an Hatun Sürücü. Wenn man jedoch von der oben genannten Definition ausgeht, ist ihre Zahl in Deutschland relativ gering: Die Juristen vom Max Planck Institut haben zwischen 1996 und 2005 rund 30 Fälle analysiert, bei denen diese Umstände gegeben waren. Bei etwa 100 weiteren Fällen handelt es sich um Grenzfälle zur sogenannten "Blutrache" oder "Partnertötung".Quelle
Dass es eine Art "Kultur-Rabatt" vor Gericht gebe, ist ein Mythos, wie Julia Kasselt, Mitautorin der Studie, in einem MEDIENDIENST-Interview 2014 erklärte. Deutsche Gerichte sehen in der Verteidigung der Ehre einen "niedrigen Beweggrund" – "Ehrenmorde" werden also in der Regel härter bestraft als vergleichbare Delikte.Quelle
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