Antisemitismus
Feindliche Einstellungen gegenüber Juden treffen in Deutschland aufgrund des millionenfachen Mordens in der Zeit des Nationalsozialismus einen besonderen Nerv. Doch wie stark ist Antisemitismus heute noch verbreitet? Wo kommt der Begriff her? Und welche Erscheinungsformen gibt es?
Was ist Antisemitismus?
Antisemitismus ist ein Sammelbegriff für alle Formen der Judenfeindschaft. Die genauere Definition von Antisemitismus ist jedoch umstritten. Für die politische und praktische Auseinandersetzung wird häufig die sogenannte Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) herangezogen. Mitte 2017 hat auch die Bundesregierung diese Definition angenommen: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."
Antisemitismus kann historisch und ideologisch sehr unterschiedlich zutage treten. Der "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" (UEA) unterscheidet in seinem 2017 vorgelegten Bericht daher verschiedene Erscheinungsformen:
- "Klassische" Ideologieformen: Als "klassisch" werden diese Formen bezeichnet, weil sie zum Großteil seit Jahrhunderten existieren. Dazu zählt zum Beispiel der "soziale Antisemitismus". Im Mittelalter galten Juden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als "ausbeuterische" und "unproduktive" Händler oder "Wucherer". Bis heute ist das stereotype Bild von Juden als mächtige Akteure in der Finanzwelt gängiger Bestandteil antisemitischer Vorurteilsstrukturen. Neben dem "sozialen" Antisemitismus gehören der "religiöse", der "politische", der "nationalistische" und der "rassistische" Antisemitismus zu den "klassischen" Erscheinungsformen.
- Neuere Ideologieformen: Antisemitismus wird in Deutschland nicht zuletzt aufgrund des Nationalsozialismus gemeinhin geächtet. Doch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind antisemitische Einstellungen nicht verschwunden. Seither zeigt sich Antisemitismus mit anderen thematischen Bezügen. So zählen der sekundäre Antisemitismus und der israelbezogene Antisemitismus zu den neueren oder auch "moderneren" Erscheinungsformen des Antisemitismus.
Die Unterscheidung der Ideologieformen dient der Einordnung. In der Realität treten aber meist Mischformen auf. Zudem weist der "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" darauf hin, dass es gerade bei den neueren Ideologieformen schwierig sein kann, zwischen kritischen Äußerungen und antisemitischen zu unterscheiden.Quelle
Antisemitismus kann latent auftreten oder manifestiert. Manifest äußert er sich etwa in Übergriffen auf Juden, Sachbeschädigungen oder Propaganda. Als latent antisemitisch gelten Menschen, die judenfeindlich denken, aber (noch) keine Straftaten begehen. Die öffentliche antisemitische Hetze gegen Juden ist in Deutschland als Volksverhetzung strafbar. Dazu gehört auch die Leugnung des Holocausts.
Wie verbreitet ist Antisemitismus in der Gesellschaft?
Mehrere Studien zeigen, dass antisemitische Einstellungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen. Antisemitismus tritt dabei in unterschiedlichen Erscheinungsformen zutage.
- Die "Mitte"-Studie aus dem Jahr 2019 ergab: "Klassisch" antisemitische Einstellungen finden sich bei rund sechs Prozent der Befragten. In den Jahren zuvor war dieser Wert rückläufig. Zu "klassisch" antisemitischen Aussagen gehört etwa: "Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss". Weiter verbreitet ist israelbezogener Antisemitismus, ihm stimmen rund ein Viertel der Befragten zu. Dazu gehören Aussagen wie "Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat." Quelle
- Aus einer Bertelsmann-Studie von 2015 geht hervor, dass traditioneller Antisemitismus "relativ konsistent, stabil und änderungsresistent" sei. 23 Prozent der Bevölkerung stimmten zum Beispiel der Aussage zu "Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss". Im Vergleich zu 2013 sind die Zustimmungswerte leicht gesunken. Die Ergebnisse legen nahe, dass diese Form des Antisemitismus besonders unter älteren Befragten verbreitet ist.Quelle
- 2020 gab über die Hälfte der Befragten bei einer repräsentativen Umfrage des Unternehmens Ipsos an, dass ihrer Auffassung nach antisemitische Einstellungen in Deuschland zunehmen. Diese Beobachtung teilten vor allem ältere Menschen: Rund zwei Drittel der Befragten über 50 Jahre zeigten sich besorgt über den wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft.Quelle
- Forscher*innen der Technischen Universität Berlin haben 2018 untersucht, wie sich Antisemitismus im Internet äußert. Die Studie zeigt, dass "klassische" Formen der Judenfeindschaft im Netz stark verbreitet sind. So beinhalteten über die Hälfte (54 Prozent) der untersuchten antisemitischen Online-Kommentare "klassisch" antisemitische Stereotype. 33 Prozent der Kommentare enthielten israelbezogenen Antisemitismus.Quelle
Ein Team der Universität Bielefeld hat im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" (UEA) 2017 den Forschungsstand der vergangenen 15 Jahre zu antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung in einer Expertise zusammengefasst.
Welche Erfahrungen machen Juden in Deutschland mit Antisemitismus?
Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hat im Jahr 2018 Juden in Europa zu ihrer Wahrnehmung von Antisemitismus befragt. 89 Prozent der Befragten in Deutschland sagten, dass die Judenfeindlichkeit in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. 75 Prozent vermeiden gelegentlich bis immer, in der Öffentlichkeit Gegenstände zu tragen, die sie als Juden identifizieren könnten. 41 Prozent waren in den letzten zwölf Monaten von antisemitischen Übergriffen betroffen.Quelle
Detaillierte Aufschlüsse darüber, wie Juden Antisemitismus erleben, gibt eine Studie des "Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung" im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" aus dem Jahr 2017:
Wie viele antisemitische Straftaten werden verübt?
2019 wurden 2.032 antisemitische Straftaten erfasst. Das entspricht einem Anstieg von 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und ist die höchste Zahl seit Beginn der statistischen Erfassung vor fast 20 Jahren. Mit rund 93 Prozent geht ein Großteil der Delikte auf Tatverdächtige aus dem rechten Milieu zurück. Die antisemitischen Straftaten reichen von verbaler Hetze bis hin zu körperlichen Attacken gegen Jüdinnen und Juden.Quelle
Die polizeiliche Erfassung antisemitischer Straftaten steht in der Kritik: Viele Übergriffe würden nicht registriert, sagen Fachleute. Eine Untersuchung der Universität Bielefeld zeigt: Nur rund ein Viertel der Betroffenen antisemitischer Vorfälle hat diese gemeldet. Organisationen wie die "Amadeu Antonio Stiftung" (AAS) oder die "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin" (RIAS) führen daher eigene Zählungen durch. RIAS erfasste etwa 2019 allein in Berlin 881 antisemitische Vorfälle.Quelle
Wie verbreitet ist Antisemitismus an Schulen?
Das "Institut für Konflikt- und Gewaltforschung" und die Soziologin Julia Bernstein von der FH Frankfurt haben für den "Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus" (UEA) Juden gefragt, wie sie Antisemitismus in Deutschland erleben. Rund 40 Prozent der Befragten gaben in der Studie an, in den vergangenen zwölf Monaten in Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Hochschule Antisemitismus erfahren zu haben.Quelle
In der Schule zeige sich laut Studie ein direkter und aggressiver Antisemitismus, der sich in drei Erscheinungsformen unterteilen lässt:
- Provokationen mit Bezügen zur NS-Zeit
- Anti-israelische Haltungen, die Schüler, aber auch Lehrer äußern.
- Verwendung des Wortes "Jude" als Beschimpfung. Sie richte sich sowohl gegen jüdische als auch nicht-jüdische Schüler. Die Beleidigung werde als Synonym für "unzuverlässige, geizige oder schwache Menschen" verwendet.Quelle
Um Antisemitismus an Schulen entgegenzuwirken, setzt sich der "Unabhängige Expertenkreis" unter anderem für langfristige Kooperationen von Schulen mit NGOs und jüdischen Verbänden ein.Quelle
In einem MEDIENDIENST-Artikel fordern Experten, Lehrer dürften antisemitische Vorfälle nicht herunterspielen. Zudem müssten sich Schulen klar gegen Antisemitismus positionieren und für betroffene Jugendliche und Eltern einsetzen. Bei überfordernden Situationen sollten Lehrer externe Unterstützung von Beratungsstellen heranziehen. Es komme darauf an, Gegenmeinungen zu stärken und eigene Vorurteile zu hinterfragen. Zugleich warnen Experten davor, zu generalisieren und davon auszugehen, dass muslimisch sozialisierte Schüler besonders antisemitisch seien.
Aktuelle Materialien und Methoden zu antisemitismuskritischen Bildungsarbeit bieten die "KIgA", "Bildungsstätte Anne Frank", "Amadeu Antonio Stiftung" und das "Kompetenzzentrum der ZWST".
Gibt es einen verstärkten Antisemitismus unter Muslimen?
Seit rund zehn Jahren stehen Muslime im Fokus öffentlicher Debatten, wenn es um Antisemitismus geht. In letzter Zeit sind einige Studien entstanden, die Antisemitismus unter Muslimen untersuchen. Die Ergebnisse sind allerdings nicht eindeutig.
2014 kamen Forscher der Universität Bielefeld in einer umfassenden, jedoch nicht repräsentativen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass es keine gravierenden Unterschiede zwischen den antisemitischen Vorurteilen von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gebe, sofern sie nicht extremistisch orientiert sind. Die Ergebnisse der Forschung fasst Andreas Zick in einem Artikel für den MEDIENDIENST zusammen.
Eine Studie der "Universität Bielefeld" zum Antisemitismus bei Jugendlichen „aus muslimisch geprägten Sozialisationskontexten“ hat 2010 ergeben, dass antisemitische Einstellungen bei ihnen insgesamt häufiger anzutreffen sind. Ist dies der Fall, sei damit jedoch meist das Gefühl von Benachteiligung verbunden, bei dem die eigenen Erfahrungen von Diskriminierung und Abwertung mit dem Leid der Muslime weltweit verknüpft werden. Daraus entstehe das Gefühl einer weltweit gedemütigten Schicksalsgemeinschaft.Quelle
Weitestgehend einig sind sich die Wissenschaftler darüber, dass der Zusammenhang zwischen ethnischer oder religiöser Herkunft keinen alleinigen Erklärungsansatz für Ausmaß und Ausprägung antisemitischer Denkmuster bietet.Quelle
Chaban Salih (empati gGmbH) hat im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" (UEA) eine Expertise zum Themenfeld Antisemitismus und muslimische Moscheegemeinden erstellt. Dazu befragte er 18 Imame zu ihren Einstellungen gegenüber Juden und der Situation in ihren Gemeinden. Die 2017 veröffentlichte Expertise zeigt:
- Die befragten Imame kritisierten, dass es unter den Gläubigen antisemitische Einstellungen gebe. Viele gingen jedoch davon aus, dass hinter dem Antisemitismus keine geschlossenen Ideologien, sondern unreflektierte antisemitische Stereotype stünden.
- Einige Imame versuchten, antisemitischen Ressentiments durch Begegnungen mit Juden entgegenzuwirken.
- Die meisten Befragten sahen den Nahost-Konflikt als politischen und nicht als religiösen Konflikt.
- Die große Mehrheit der Befragten lehnte eine judenfeindliche Deutung des Islams ab. "Judenfeindlichkeit dürfte islamisch theologisch gesehen nicht sein", so ein Befragter.
- In den Interviews haben sich keine radikalen antisemitischen Stereotype gezeigt. Teilweise wurde jedoch die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung deutscher und europäischer Juden mit der Situation der Palästinenser heute gleichgesetzt.Quelle
Gibt es einen "importierten" Antisemitismus?
Bis vor zehn Jahren waren antisemitische Einstellungen von Migranten und ihren Nachkommen kaum ein Thema in Deutschland. In jüngster Zeit fokussiert sich die öffentliche Diskussion über antisemitische Haltungen und Übergriffe jedoch häufig auf Muslime (mit Migrationshintergrund).Quelle
Ende 2017 haben Demonstrationen in Berlin, auf denen Israel-Fahnen verbrannt wurden, für erneute Debatten gesorgt. Wieder entbrannte eine Debatte darüber, ob es einen "neuen" und vor allem spezifisch "muslimischen Antisemitismus" gäbe, der durch "Migranten" quasi nach Deutschland importiert worden sei.
In der Wissenschaft herrscht weitestgehende Einigkeit darüber, dass beides nicht zutrifft: Der Antisemitismus passe sich zwar immer wieder neuen gesellschaftlichen Zusammenhängen und Diskursen an. Die Stereotype, die dabei bedient werden, blieben jedoch weitestgehend unverändert. Dies gelte auch für den Antisemitismus unter Muslimen.
Wie viele Straftaten werden von Menschen mit Migrationshintergrund verübt?
Wie häufig antisemitische Straftatenvon Muslimen oder "Tätern mit Migrationshintergrund" verübt werden, ist unbekannt, denn statistisch wird das nicht erfasst. In den Daten zur "politisch motivierten Kriminalität" gibt es neben dem "rechten" und dem "linken" Milieu auch "ausländische Ideologien" und "religiöse Ideologien". Diese beziehen sich aber auf die Herkunft der Ideologie und nicht die Herkunft der Täter, teilte das Bundesinnenministerium (BMI) auf Anfrage des MEDIENDIENSTES mit. Laut BMI meinen "ausländische Ideologien" nicht-religiöse ausländische Ideologien, "religiöse Ideologien" im Wesentlichen den Themenbereich "Islamismus".Quelle .
Von den 2.032 antisemitischen Straftaten, die 2019 registriert wurden, entfielen rund 93 Prozent (1.898 Straftaten) auf das rechte Spektrum, rund drei Prozent (57 Straftaten) auf die Kategorie "ausländische Ideologie" und etwa ein Prozent (24 Straftaten) auf "religiöse Ideologie". Bei der Mehrheit antisemitischer Gewalt- und Straftaten geht die Polizei damit von einer "rechten" Tatmotivation aus. In einer Studie der Universität Bielefeld gaben hingegen rund 80 Prozent der Opfer antisemitischer Gewalt an, von Muslimen angegriffen worden zu sein. Im MEDIENDIENST-Interview erklärt der Soziologe Andreas Hövermann, wie die unterschiedlichen Zahlen zueinander passen. Quelle
Die sogenannte Schlussstrich-Debatte
Wenn es um die Gräueltaten im Nationalsozialismus und Holocaust geht, gibt es in Deutschland den Vorsatz der Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur. Dennoch werden seit Gründung der Bundesrepublik immer wieder Forderung laut, einen Schlussstrich unter die Debatte zu ziehen.Quelle
Die Forderung nach einem Schlussstrich ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des "Instituts für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung" (IKG) und der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) aus dem Jahr 2019: Ein Drittel der Befragten fordert, einen Schlussstrich unter die Verbrechen des Nationalsozialismus zu ziehen. Über die Hälfe der Befragten lehnt dies ab.Quelle
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